Diego Maradona & Neapel - Portrait einer unerschütterlichen Fußball-Liebe
Wohl nirgendwo sonst wird ein Fußballer noch Jahre nach seiner aktiven Zeit so verehrt wie Diego Maradona in Neapel. Nicht nur, dass Maradonas Fähigkeiten am Ball spektakulär waren und er dem SSC Neapel die größten Triumphe der Vereinsgeschichte bescherte. Es waren auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Neapel der 1980er Jahre, die Maradonas Zeit am Vesuv so außergewöhnlich machten – und zu einer Liebe und Treue der Tifosi führten, die bis heute einzigartig sind.
„Ho visto Maradona. Eh, mammà, innamorato son!“ („Ich habe Maradona gesehen. Oh Mama, ich bin verliebt!“) – Der Gesang der neapolitanischen Tifosi zu Ehren ihres großen, unvergleichlichen Heilsbringers durchzog im Juli 2017 wieder lautstark die Altstadt Neapels. Tausende strömten auf die Piazza Plebiscito um ihren Diego zu sehen, ihm zu huldigen. Und um zu hören, dass er, Diego, die Neapolitaner und ihre Stadt immer noch genauso liebt wie vor 30 Jahren, dem vorläufigen Höhepunkt von Maradonas Zeit in Neapel. Diego Maradona sparte auch diesmal nicht an Liebkosungen in Richtung der Tifosi: „Seit meinem ersten Tag in Neapel bin ich Neapolitaner. Kein anderes Volk hat mich so geliebt wie ihr!“.
Um zu erahnen, warum Diego Maradona auch heute, drei Jahrzehnte nach dem ersten Scudetto für Napoli, in dieser Stadt noch immer frenetisch bejubelt wird, reicht es nicht, seine herausragenden fußballerischen Fähigkeiten herauszustellen. Oder die Titel, die er für den Verein gewann. Die besondere Beziehung Maradonas zu Neapel ist vielschichtig. Sie reicht auch in die gesellschaftlichen und sozialen Strukturen der Stadt und des Italien der 1980er Jahre.
Die frühen 1980er Jahre in Neapel - Mafia-Kriege, Erdbeben und soziale Not
Die 80er Jahre begannen am Golf von Neapel mit einer Katastrophe. Ein kräftiges Erdbeben durchzog die Region und richtete auch in Neapel verheerende Schäden an. Die ohnehin bereits prekäre Wohnsituation in der Stadt verschlechterte sich weiter. Riesige Summen an Hilfsgeldern flossen in die Stadt – und versickerten viel zu häufig in „unbekannten“ Kanälen. Dass die Bedeutung der Neapolitanischen Mafia – der Camorra – gerade zu Beginn der 80er Jahre erheblich zunahm, war gewiss kein Zufall. In der Folge entwickelte sich einer der blutigsten Mafia-Kriege, die Italien je erleben musste: Fast täglich gab es Morde in der Region Kampanien. Es war ein stark gezeichnetes Neapel, mit Narben und offenen Wunden. Aber vor allem auch ein Neapel mit Träumen. Ein Traum, der die ragazzi napoletani damals einte, war der von einem ersten Scudetto für Neapel, der italienischen Fußballmeisterschaft.
Die Verheißung Diego Maradona
Realistisch betrachtet lag der Gewinn des Scudetto für Neapel im Sommer 1984 in weiter Ferne. Der Abstieg in die Zweitklassigkeit konnte in der Saison 83/84 gerade noch abgewendet werden. Ein Neuanfang musste her, das war klar. Was dann aber kam, hatte niemand erwartet. Als der SSC Neapel im Mai 1984 überraschend die Verhandlungen mit dem FC Barcelona wegen einer Verpflichtung Maradonas aufnahm, war die Stadt vereint in dem Bestreben, den Ausnahmespieler an den Vesuv zu holen. Besonders mit der Hilfe zweier großer Anhänger des Projekts, dem Bürgermeister Neapels und dem Generaldirektor der Banco di Napoli, sowie großer Verhandlungsbereitschaft der Verantwortlichen des FC Barcelona gelang es schließlich, Maradona für die Rekordsumme von umgerechnet etwa 12 Millionen Euro zu verpflichten.
Wie der Verein die damals außergewöhnliche Summe auftreiben konnte, ist, anders als vielfach in deutschen Artikeln zu lesen, also eigentlich kein Geheimnis. Dass die Mafia auch hier ihre Finger im Spiel hatte, ist dennoch nicht auszuschließen. Als die Nachricht vom Wechsel Diego Maradonas am späten Abend des 30. Juni die Runde machte, wurde dies mit einer riesigen Party und Autokorsos im Zentrum Neapels gefeiert. Zur Vorstellung Maradonas strömten wenige Tage später etwa 70.000 Tifosi ins Stadion San Paolo. Es war mehr als eine erste Andeutung der Verehrung der Neapolitaner für Diego Maradona – und ihrer Erwartungen.
Die Verheißung Maradona ließ die Bewohner Neapels – gemeinhin weniger für ihre nüchterne, zurückhaltende Art bekannt – an große und baldige Triumphe nicht nur glauben, sie schienen nun greifbar. Eine abstrakte Hoffnung wurde konkret.
Die Serie A - die damals stärkste Fußball-Liga der Welt
Das Problem war nur: Anders als heute galt die italienische Liga damals zu Recht als die beste der Welt, in keiner anderen Spielklasse floss so viel Geld und tummelten sich so viele Stars wie in der Serie A. Die Namen der Leistungsträger der norditalienischen Teams Mitte der 80er Jahre lesen sich wie ein Best-of des Weltfußballs. Die alte Dame aus Turin mit Platini, Rossi und Laudrup, der AC Mailand mit Van Basten, Gullit, Baresi und einem blutjungen Paolo Maldini. Und Inter Mailand mit Zenga, Bergomi und Rummenigge. Weitere große Namen – wie Zico und Sócrates – verteilten sich auf andere, vornehmlich norditalienische Teams.
Hinter dieser sportlichen Größe stand häufig wirtschaftliche Potenz: Hinter Juventus Turin die Agnelli-Familie, hinter dem AC Mailand ab 1986 der Cavaliere Berlusconi. Neapels Konkurrenz aus dem Norden war seinerzeit enorm. Und doch glaubte man fest daran, dass Maradona den Scudetto nach Neapel bringen würde.
Held von Generationen
Und Maradona selbst? Er wusste, was von ihm erwartet wurde und freute sich auf die Herausforderung. Auf die Frage eines Journalisten, ob ihn die Erwartungen und die Liebe der Neapolitanischen Tifosi nicht erdrücken würden, entgegnete er, dass er Liebe erfahren möchte und dass er Liebe brauche. Als Diego Maradona dann auch noch verlautbarte, dass er vor allem für die Armen Neapels, die Kinder auf den Straßen spielen und Titel gewinnen wolle, war es endgültig um die Neapolitaner geschehen. Die Solidarisierung Maradonas mit der armen und einfachen Bevölkerung Neapels – er selbst entstammt ärmlichsten Verhältnissen – führte dazu, dass er nicht nur als Heilsbringer, sondern als einer von ihnen – un napoletano vero – angesehen wurde. Es war die Verehrung eines Bruders.
Die ersten beiden Spielzeiten ließen das Potential des neuen SSC Neapel immer wieder aufblitzen, größere Erfolge konnten aber nicht erzielt werden.
Die großen Triumphe mit Napoli
Die Saison 86/87 schließlich sollte Neapel und Maradona, der zuvor Argentinien zum Weltmeistertitel geführt hatte, gehören. Die am neunten Spieltag eroberte Tabellenführung wurde nicht mehr abgegeben. Und so wurde aus einem Traum, einer abstrakten Hoffnung, der Moment des Triumphes. Die ganze Stadt feierte über Tage hinweg den ersten Scudetto der Vereinsgeschichte. Die Bedeutung dieses Titels für die Stadt und ihre Bewohner lässt sich kaum ermessen. Man feierte sich, den Sieg über den reichen und arroganten Norden und man feierte – nein, man huldigte – Maradona. Jedem war klar, dass dieser Triumph vor allem ihm zu verdanken war. Er hatte es geschafft, er brachte den Titel nach Neapel, er brachte den Titel zu den Kindern der Straße. Der zusätzliche Gewinn der Coppa Italia einige Wochen später blieb da nur eine Randnotiz.
In den Folgejahren konnte El Pibe de Oro (der„Goldjunge“), der inzwischen mit Careca und Giordano ein gefährliches Offensivtrio bildete, weitere bedeutende Erfolge mit Napoli verbuchen. Der Gewinn des UEFA-Pokals 1989 ist auch vielen Deutschen noch in Erinnerung. Die beiden Finalspiele gegen den VFB Stuttgart wurden – wie auch die Halbfinalspiele gegen Bayern München – zu einer Schaubühne für Maradonas individuelle Klasse, die damals noch immer seines gleichen suchte. Es waren auch die Erfolge und die Stärke des SSC Neapel – auch 1988 wurde der Gewinn des Scudetto nur knapp verfehlt – , welche die Vereine des Nordens immer tiefer in die Tasche greifen und Superstar um Superstar verpflichten ließen. Besonders prominent waren etwa die Transfers von Matthäus und Klinsmann zu Inter Mailand. Napoli aber hatte immer noch Diego Maradona. Und Mitspieler, die bereit waren, ihre Egos dem Ego Maradonas unterzuordnen. „Maradona plus zehn“ reichte sogar noch für einen zweiten Scudetto, den Neapel 1990 gewinnen konnte.
Private Probleme & "Flucht" aus Neapel
Doch auch der zweite Meistertitel konnte nicht von den „privaten“ Problemen Maradonas ablenken, die zunehmend auch das Verhältnis zu Verein und Präsident Ferlaino belasteten. Diegos Kokainkonsum, der zuvor häufig auch mit Hilfe des Vereins kaschiert worden war, war nunmehr offenkundig, wilde Partys mit Prostituierten die Regel. Hinzu kamen Verbindungen zur Camorra und die Affäre um einen unehelichen Sohn, den Maradona erst viele Jahre später anerkennen sollte. In der Saison 1990/91 spielte Diego Maradona nur noch sporadisch und beendete sie sogar vorzeitig, indem er die Stadt – nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen Drogendelikten – unangekündigt verließ und nach Argentinien flog. Diese „Flucht Maradonas“, wie sie in der italienischen Presse häufig bezeichnet wurde, ließ viele gebrochene Herzen – auch Maradona überkamen in diesem Moment die Tränen, wie er jetzt noch einmal bekräftigte –, aber vereinzelt auch Zorn unter den Tifosi Neapels zurück.
Ungebrochene Verehrung für Maradona
War es das mit der Liebe der Neapolitaner zu Maradona? Man erahnt die Antwort: Als Maradona 1994 mit Argentinien bei der WM in den USA antrat, fieberten die Neapolitaner begeistert mit und bejubelten die Aktionen ihres Diego, erzählt Donato, ein Neapolitaner, der seit den 70er Jahren in Neapels Altstadt ein Café betreibt. Die Liebe zu Diego, dem Heilsbringer und Bruder, war einfach zu groß. Die Enttäuschungen waren vergessen.
Als Ciro Ferrara, seinerzeit ein wichtiger Teamkollege von Maradona, späterer Kapitän des Teams und gebürtiger Neapolitaner, 2005 im San Paolo vor zehntausenden Zuschauern in den Fußballer-Ruhestand verabschiedet wurde, war auch Maradona zugegen. Der Stadionsprecher rief Diegos Namen aus und verwandelte das Stadion damit in ein Tollhaus. Diego nahm die Einladung der Tifosi an und lief berauscht eine Ehrenrunde, angefeuert von den lautstarken Gesängen auf den Rängen. Ferrara, der eigentliche Jubilar an jenem Abend, lächelte erst ein wenig verlegen, dann stimmte auch er in den Jubel für Maradona ein. Es war, als sei Maradona nie fort gewesen. Vielleicht war das der Abschied, den Neapel seinem Goldjungen immer bereiten wollte.
Diego Maradona im Neapel von heute
Es überrascht nicht, dass Neapel Diego Armando Maradona 2017 den Titel des Ehrenbürgers verlieh. Maradonas neapolitanische Jahre brachten der Stadt die bislang einzigen Meistertitel, und das in einer Zeit, als die Serie A die stärkste Liga der Welt war. Als die wirtschaftliche Macht des Nordens – auch im Fußball – noch überwältigender schien als heute und der Nord-Süd-Konflikt in Italien besonders brodelte. In einer Zeit, als Neapel nach heftigen Erdbeben und Mafia-Kriegen wirtschaftlich und sozial am Boden lag.
„Ci ha fatto vincere!“ („Er hat uns zu Siegern gemacht!“), hört man immer wieder von – auch jungen – Neapolitanern, die auf die Bedeutung von Maradona für Stadt und Bewohner angesprochen werden. Er hat sie zu Siegern gemacht und über den Norden triumphieren lassen. Er hat vergessen geglaubte Zeiten eines glanzvollen Neapel wiederbelebt. Vor allem aber hat er den Traum von Generationen Wirklichkeit werden lassen.
Das Neapel von heute lässt sich kaum ohne Maradona denken. Überall in der Stadt werden auch heute noch Trikots, Modellfiguren und sonstige Fanartikel von Diego Maradona angeboten. Auch heute noch finden sich fast wöchentlich Berichte über ihn in lokalen Zeitungen. Und auch privat ist Maradona – über Generationen hinweg – ein beliebtes Gesprächsthema geblieben. Die Präsenz Maradonas ist noch deutlich zu spüren. So deutlich, dass Lorenzo Insigne, ein gebürtiger Neapolitaner und neben Marek Hamsik der Star des aktuellen SSC Neapel, mit dem Versuch, sich der ‚heiligen‘ Nummer zehn zu bemächtigen, kläglich scheiterte. In Neapel kann es, auch 25 Jahre nach Maradonas „Flucht“, nur eine número diez geben.
Die größten Erfolge von Diego Maradona als Spieler / Stats
Weltmeister (1x): 1986
UEFA-Cup-Sieger (1x): 1989
Italienischer Meister (2x): 1987, 1990
Italienischer Poklsieger (1x): 1987
Spanischer Pokalsieger (1x): 1983
Zu Zeiten von Diego Maradona gab es auch einen großen deutschen Spieler, der zu Maradonas größtem Rivalen avancierte: Lothar Matthäus. Beide spielten in Italien, beide trafen in zwei legendären WM-Finals aufeinander. Und beide waren die absoluten Leader ihrer Teams. In einem anderen Artikel haben wir eine Hommage an Matthäus, den vielleicht besten deutschen Spieler aller Zeiten, verfasst. Schaut gerne mal rein.
0 Comments